Beim Tierarzt: Das vergessene Erziehungsthema
Von Ralph Rückert, Tierarzt
Bei einer Umfrage unter Tierärzten bezüglich der nervigsten Verhaltensweisen von Kunden war erwartungsgemäß eine bestimmte Sache unter den Top Drei: Hund kommt auf den Behandlungstisch, Tierarzt fängt mit der Untersuchung an, Hund schnappt oder beißt, Besitzer sagt (manchmal gar grinsend): “Oh ja, sorry, hätte ich vielleicht erwähnen sollen, dass er das gern mal macht.”
Allzu häufig kommt das dankenswerterweise nicht vor, aber erlebt haben wir es alle schon. In solchen Fällen kann man eigentlich nur noch den Kopf schütteln und sich fragen, ob der betreffende Kunde noch alle Birnen im Kronleuchter hat. Man würde ja schon meinen, dass jedem klar sein müsste, was es für einen Tierarzt bedeuten kann, wenn er durch einen Biss ernsthaft verletzt wird, zum Beispiel an der Hand, oder? Da geht es manchmal (und ich kenne solche Fälle!) um zeitweise oder dauerhafte Berufsunfähigkeit und damit um Schadenssummen im Millionenbereich. Also bitte: Wenn man als Besitzer schon weiß, dass der eigene Hund dazu neigt, den Tierarzt oder sein Personal zu schreddern, dann ist es ein absolutes No-Go, dies nicht vorab klarzustellen.
Was das eigentliche Thema des Artikels angeht, müssen wir aber gar nicht bis zu solch extremen Beispielen gehen. Erziehung ist in der Hundewelt ein Dauerbrenner. Nichts wird auf allen Kommunikationskanälen so häufig, so intensiv und so kontrovers diskutiert wie die vielen verschiedenen Erziehungs- und Trainingsmethoden. Man schreibt sich die Finger wund und die Köpfe heiß über gewaltfreies Training, über positive und negative Verstärkung, über das Meistern aller denkbaren und undenkbaren Situationen. Nur eines wird eigentlich immer vergessen: Wie bringe ich dem Hund bei, sich beim Tierarzt so zu benehmen, dass eine reibungslose und gründliche Untersuchung ohne großes Theater machbar ist!
Ich stelle hier mal die Behauptung auf, dass sich das genau umgekehrt proportional verhält: Je mehr die Theorie der Hundeerziehung in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zum Top-Thema geworden ist, desto mehr Hunde werden mir vorgestellt, die mir als Tierarzt irgendwelche Probleme machen und die oft nicht mal ansatzweise gelernt haben, wie sie sich in einer Tierarztpraxis zu verhalten haben. Wir sehen da wirklich alles von extrem zeitraubendem passiven Widerstand bis hin zu massiver Abwehraggression.
Im Prinzip ist das ja auch nicht weiter verwunderlich. Wie schon angedeutet, scheint dieser Punkt irgendwie völlig vergessen oder gar ignoriert zu werden, und zwar sowohl von den Hundehaltern als auch von den Erziehungsprofis in den Hundeschulen. Eigentlich (eigentlich!) würde man bei der heutzutage üblichen Intensität der Erziehungsbemühungen als Tierarzt erwarten, dass man immer wieder mal von lokalen Hundeschulen darauf angesprochen würde, ob ein Welpen- oder Junghundetraining in den Praxisräumen denk- und organisierbar wäre. Ist mir (oder anderen mir bekannten Kolleginnen und Kollegen) aber noch nie untergekommen.
Ab und zu kommen Besitzer von selbst auf die sehr sinnvolle Idee, mich zu fragen, ob sie immer mal wieder mit ihrem Hund vorbei schauen könnten, damit sich das Tier an diese Situation, an die Räumlichkeiten und an uns gewöhnen kann. Aber wirklich nur ab und zu. Meist geht diese Anregung von uns aus, und selbst das wird dann eher selten umgesetzt. Dabei haben wir schon des öfteren erleben können, wie sehr sich eine ausgewachsene Tierarzt-Phobie durch konsequentes Üben lindern lässt.
Also bitte: Für unsere Kunden gilt auf jeden Fall, dass ihnen unser Wartezimmer immer offen steht. Kommen Sie vorbei, sagen Sie am Empfang Bescheid, dass kein akutes Problem vorliegt und Sie uns nur besuchen wollen, nehmen Sie Platz, lassen Sie sich einen Kaffee oder ein Wasser servieren, verfolgen Sie das Geschehen oder lesen Sie eine Zeitung, alles gar kein Problem. Und wenn es organisatorisch gerade möglich ist, können Sie mit Ihrem Hund auch mal in ein Sprechzimmer, ohne dass ihm dabei etwas Unangenehmes passiert. Darum geht es nämlich meist: Der Hund muss lernen, dass ein Tierarztbesuch nicht zwangsläufig jedes Mal mit Zwang und Schmerzen verbunden ist, sondern auch mal höchst unterhaltsam und leckerchenlastig ablaufen kann.
Die in einen optimal für Tierarztbesuche erzogenen Hund investierte Mühe zahlt sich in mehrfacher Hinsicht aus. Zum einen kann so ein Tier sehr effektiv, gründlich und mit höheren Erfolgsaussichten auf eine korrekte Diagnose untersucht werden. Sie können ja mal selber zu schätzen versuchen, wie viel Konzentration ich noch für eine präzise Diagnostik übrig habe, wenn ich ständig aufpassen muss, dass das Ganze nicht plötzlich in Blut und Tränen endet. Oder wie genau man als Tierarzt einen Hund zum Beispiel auf Gebissprobleme untersuchen kann, der grundsätzlich einen Maulkorb braucht. Auch werden bei einem gut erzogenen Hund wahrscheinlich im Laufe des Lebens deutlich weniger Sedierungen und Narkosen fällig, und das bringt uns gleich zum finanziellen Aspekt: Ein gutes Tierarzt-Training spart bares Geld!
Unsere Gebührenordnung sieht sehr wohl vor, dass eine durch Widerstand des Tieres (sei er nun passiv oder aktiv) zeitlich in die Länge gezogene Untersuchung oder sonstige Maßnahme in die Berechnung der Behandlungsgebühren einfließen darf. Ich denke, wir sind dafür bekannt, dass wir sehr bemüht sind, auch auf schwierige Hunde mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen einzugehen. Wir haben es auch bei so einigen Hunden, die andernorts nur mit Maulkorb behandelt wurden, geschafft, auf diesen wieder zu verzichten. Wir dürfen uns aber nichts vormachen: Das alles kostet Zeit, und Zeit ist mein knappstes Gut. Also bin ich gezwungen, immer irgendwie die Uhr im Auge zu behalten und meine Zeit auch in Rechnung zu bringen. Ein Hund, bei dem alles reibungslos und geschmeidig abläuft, kommt also allemal billiger weg, und das kann sich über ein Hundeleben gerechnet massiv auswirken. Da sind ein paar Stunden Einzeltraining mit dem Hundetrainer in der Praxis der Wahl in der Regel gut angelegtes Geld.
Zu guter Letzt salbt ein Hund, der sich beim Tierarzt diszipliniert und kooperativ verhält, auch das Selbstwertgefühl des Besitzers. Es hat natürlich schon etwas grenzwertig Absurdes, wenn man in jeder Diskussion um Listenhunde den Spruch loslässt, dass grundsätzlich „das obere Ende der Leine“ für jegliches Fehlverhalten des Hundes verantwortlich wäre, sich aber gleichzeitig NICHT an die eigene Nase fasst, wenn der Hund sich beim Tierarzt aufführt wie ein Berserker.
Fazit: Gutes Benehmen beim Tierarzt ist grundsätzlich eine Erziehungssache. Bei einem Hund, den man von Welpenbeinen an hat, sollte das eine Selbstverständlichkeit sein. Bei vorbelasteten Tieren aus dem Tierschutz muss oft ungleich mehr Mühe investiert werden. Wir sind grundsätzlich gerne bereit, Sie bei Ihren diesbezüglichen Bemühungen zu unterstützen. Wir können Sie aber nicht wie den unwilligen Jagdhund zum Jagen tragen. Ein gewisses Maß an eigenem Engagement sollte also schon vorhanden sein.
Wenn Sie dann aber mal in der Praxis sind, ist es so oder so zu spät für irgendwelche Erziehungsmaßnahmen. Dann sollten Sie sich auf keinen Fall verkrampfen, weil der Hund sich nicht vorbildlich benimmt, und uns einfach mal machen lassen. Wir sind Profis und kommen mit so gut wie allem irgendwie klar. In diesen Situationen gilt mein früherer Artikel “Entspannen Sie sich! Bitte!“.
Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr
Ralph Rückert
© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Römerstraße 71, 89077 Ulm
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